encounterBLOG 21. November, Mittwoch
Movement A
Uraufführung des Projekts „Tanz im audio-visuellen Environment“ von Ulf Langheinrich, mit Toshiko Oiwa (Tanz), Dirk Langheinrich (Software), Maya SaSajima (Kostüm). Festspielhaus Hellerau.
vor gut gefülltem Haus beginnt die Aufführung mit leichter, angenehmer Disco Tanzmusik, man hat sich auf die Tribünen gesetzt, unten auf dem mattweißen dancefloor räkelt sich eine in einen weißen Pelzmantel umhüllte, platinblonde Tänzerin, mit den Fingern der Musik nachschnippend, manchmal auch den Song still mitsingend. es gefällt ihr hier bei uns, sie lächelt, und ist in sich verliebt. dann kommt ein japanischer Popsong, sie singt vergnügt mit. karaoke-mäßig ist alles in bester ordnung.
das kann natürlich nicht so weitergehen, und die illusion zerbricht auch schnell. es beginnt eine ganz andere Musik. Langheinrichs Komposition ist ein dichter Klangteppich, ein Granulat aus chaotischem und doch melodischem Lärm, Lagen aus Ton, die eine langsame Evolution durchlaufen hin zu einem dunkleren Kontinent elektronischer Naturgeräusche, die mit dem Licht, der Atmosphäre, verschmelzen.
oiwas Bewegungen fahren fort, als wäre sie noch auf dem Tanzboden, aber nun sind die Armschwünge weitausholender, fahriger, plötzlicher, ihr Körper onduliert unter ihrem Mantel weiter, dann ein Arm weit draußen, abgebrochener Flügel eines Vogels, der andere flattert am Herzen, dicht vor dem Fell. nach drei, vier Minuten, hält sie inne, plötzlich streift sie Mantel und Perücke ab, wirft sie weg. sie häutet sich, wie eine Schlange, und von jetzt an beginnt der unaufhaltsame dunkle Teil dieser Performance.
das Licht hat gewechselt, von Weiß nach Rot, und in unserer Fantasie, vielleicht, sind wir schon in der Vorhölle, oder einem erotischen Separée, wo uns Dantes Gestalten aus den verschiedenen Ringen seines Purgatoriums begegnen. der Raum ist natürlich leer, es gibt hier nichts mehr zu genießen, oiwa ist auch eine Andere, einem Lager entflohen, einer Anstalt, sie scheint immer fiebrigeren Anfällen ihres Körpers/Nervensystems erlegen, eine Heilige der Epilepsie, mit kurzgeschorenem Kopf und einem dünnen Körper, Haut Knochen Muskeln, eine Anatomie in Aufruhr, flackernde Körperteile, Arme, Hände, Finger, Schultern, Becken, Hüfte, Oberschenkel, alles beginnt sich aufzulösen in verschiedene Richtungen. oiwas Körper bewegt sich immer schneller (das kommt mir vielleicht nur so vor), er zerfällt in Serien von hyperextensiven Torsionen und Selbst-Deformationen. bewegungen, die schmerzhaft anzusehen sind, dennoch aufregend, man ist angespannt, die kinaesthetische Erregung greift auf einen über, man kann kaum still sitzen.
weiß, grau-rot, tiefrot, matt-bläulich, weiß, es gibt immer mehr subtile und ständige Lichtveränderungen, es sind Veränderungen des Lichtraums, in dem wir sehend wahrnehmen.
oiwas zittern wird intensiver, ihr ganzer Körper – Teil um Teil, Schultern, Brust, Bauch, Becken, Oberschenkel, Beine, Füße, Ellenbogen, Handgelenke, Hände, Finger, Augen, Nasenflügel, usw. – ist befallen von dieser befremdlich schönen Epilepsie des zellularen Körpers, Millionen und Milliarden von Zellen in einer endlosen zwecklosen (?) Bewegungsfolge, Bewegungen innerhalb von Bewegungen, wegfließend und zentrifugal, eine Zerflatterung von Animationsenergien, unbegreifbare Dynamik des Nerven- und Muskelsystems, synaptische Motorik die Leben anfüllt und lebensnotwendig ist, die auch Verletzungen und Verbiegungen des Körper heilt, wieder richtet. der aus Verkrümmungen wiedergeborene Ganzkörper windet sich……. wir sehen oiwa, wie sie aus der Vertikalen in die Horizontale fällt, jetzt zittert sie am Boden, auf der Erde, sie scheint von einer unsichtbaren Triebfeder angeschoben, sie gleitet am Boden entlang, vorwärts, rückwärts, wird geglitten, ihre nervöse physische Energie verstärkt ihre Präsenz hier, als singulärer Organismus in einem weiten Licht- und Hitzefeld.
allmählich, während wir auf diesen erhitzten Körper starren, bemerken wir, dass diese Felder ihre eigene Präsenz haben, sie werden lebhaft, sie bewegen sich auch, Licht verwandelt sich in Lichtfluxus……die vier identischen Quadrate bilden diese lange Rechteck, illuminiert von vier Videoprojektoren (an der Decke hängend) sowie weiteren Lichtinstrumenten, und sie manifestieren langsam ihre eigene Materialität, nach etwa 30 bis 35 Minuten, und von diesem Punkt an können wir sie nicht mehr vergessen, sie sind Wirklichkeiten, Tausende und Abertausende von kleinen Pixelpunkten, Perlen, Bläschen, kochend und brodelnd, in ständiger pulsierender rhythmischer Bewegung, unter Oiwas zitterndem Körper, ein Makrokosmos der Verwesung, mit wimmelnden Zersetzern im Kadaver des einstmals lebenden, nun ins unirdische Rot getauchten Oiwa-Wesens, grau, weiß, bläulich, rosa, rot, grau weiß
oiwas ununterbrochene Zerfledderung ihrer Gliedmaßen und Extremitäten, ihr steigendes und fallendes Bauchfell, Brustkörper, Hals, ihr Gesicht mit den hin-und-her-fliegenden Augen, Mund und Nasenflügeln, ihre steigende Selbst-Oszillation, das alles hält plötzlich an, dann fährt es fort, dann wieder ein plötzliches Stillhalten, also ob der Körper in der Lage wäre, die hektische anspannende Vibration in einem „freeze-frame,“ einem Standbild anzuhalten. diese Pausen lenken unsere Aufmerksamkeit auf die Medienoberfläche (-unterfläche unter ihrem Körper) – die Haut der Erde, auf der sie auftritt, der pulsierende Lichtbildboden, der seine eigenen kontinuierlichen Bewegungstexturen entwickelt. oiwa’s Tanzerkörper scheint nun zu schweben, wie auf Ozeanwellen, unter der Wasseroberfläche.
die letzte Phase der Aufführung ist unbeschreibbar. allmählich weitet sich der Ozean der Lichtpixel, zusammen mit den pulsierenden Klangtonlagen aus, es entsteht Schwere, eine immer absoluter werdende Verdichtung der Schwingungen, Überlagerungen, Resonanzen und Dissonanzen zwischen akustischen und visuellen Welten, diese Schwingungen nehmen den gesamten Raum ein, steigern ihn, oder gar transzendieren ihn so weit, dass für das Phänomen des Tanzes eine eigenartige Körperlosigkeit zu entstehen scheint. toshiko oiwa löst sich in der Tat auf, nicht wirklich natürlich, sondern in unserer synaesthetischen Wahrnehmung, unseres gereizten Nervensystems.
ein Bewusstsein von einem totalen (auch aggressiv-schwerfälligen) Raum breitet sich aus, eines sich bewegenden sonischen Lichtraums der unsere Kopfsehnen, die Gehirnräume, durchschlägt, wie ich das bis jetzt nur bei den aggressiven Installationen des Ryoji Ikeda (und dessen Klangkompositionen für die Dumb Type Compagnie) gesehen habe. unser Nervensystem liegt brach, aufgebrochen, und Langheinrich arbeitet hier bewußt mit Farbfeldern (Ganzfeldern), die Gesamtraumbühne des Festspielhauses in einen multidimensionalen Barnett Newman-Pollock der unglaublichen, grobkörnigen Farbkleckser verwandelnd, überall tanzende Partikel, die alles korrosieren und langsam überwältigen.
die tänzerin ist überwältigt, zum schluss hin, da oiwa allmählich bewegungslos, hier liegt sie nun, scheinbar ohne zu atmen inmitten eines Ozenas von tanzendem Licht, jetzt verstärkt in virulenter Kraft eines sich langsam steigenden stroboskopischen Lichts, dessen wildes weiß-rotes Flackern sich in unser Gehirn einbrennt. ich kann kaum noch schauen, aber wenn ich durch meinen Sehschlitz die Tänzerin in der Mitte des Raums liegen sehe, merke ich, dass ihr Körper kruzifiziert zu sein scheint, die Arme seitwärts ausgestreckt, ein Opfer auf dem barocken Lichtaltar, ihr Oberkörper langsam, langsam sich aufbeugend, nach hinten abgekippt, in der Fischhaltung, mit offenem Mund nach Luft ringend. das sonische Lichfeld unter ihr und um sie herum dröhnt und flackert, beerdigt sie in einem elektrischen Sturm.
ihre stille, angespannte Präsenz wird sogar gesteigert, das heißt sie ist gerade in ihrer Unbewegtheit absolut bewegend, in diesem totalen LichtKlang-Bewegungsraum, der an sich unser Perzeptionssystem in Unordnung oder in Verwirrung versetzt, unsere Sinne sind ent-stellt — diese maximal-digitale/elektrische Bewegungsfülle zusammen mit minimalem Atem, ein menschlicher Körper entschwindet (haucht sich aus) auf den tektonischen Platten dieses immensen digitalen Driftwerks.
eine stille liegt dann im raum, als alles aufgehört hat.
wir verlassen den Saal, erschöpft.
johannes birringer
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