Das wissenschaftliche Netzwerk zum Forschungsprojekt


„Konstituierende Leiblichkeit als didaktisches Prinzip“


Subtext1Fast alle wissenschaftlichen Abhandlungen, die sich mit dem Schicksal des Körpers in der Geschichte befassen, führen gesellschaftlichen Fortschritt auf Formen und Prozesse der Disziplinierung und der Instrumentalisierung des menschlichen Körpers zurück. Zu Grunde gelegt wird dieser Analyse in der Regel die Vorstellung einer Trennung von Geist und Körper Descartes´scher Provenienz. Antagonismen wie Technik und Natur, Erlösung und Verfall, Theorie und Praxis lassen sich der Gegenüberstellung von Geist und Körper zu- oder auch unterordnen. Wird nun für eine `Wiederkehr des Körpers´ plädiert, so wird meist dessen `natürliche´ Seite intendiert.

Die schulische Erziehung gilt weithin als beispielhaft für die Unterwerfung der (kindlichen) Körperlich-keit unter gesellschaftliche Konstrukte. In der Schule, so wird unterstellt, werden hauptsächlich körperferne Rationalisierungsprozesse gefördert. Dagegen hat sich jedoch als Grundtenor diverser Ansätze einer Reform von Schule und Erziehung die Auffassung etabliert, dass pädagogische und unterrichtliche Ziele vielmehr am `natürlichen´ Verlauf der kindlichen Entwicklung orientiert sein sollten, welche Vorstellungen von Natürlichkeit auch immer dahinter stecken. Mit dem Begriff des Natürlichen wird zum einen der Reifeprozess eines Heranwachsenden zum anderen das Projekt Erziehung als solches identifiziert. Dies geschieht auf der einen Seite im Modus der Anerkennung einer wie auch immer beschaffenen Entfaltung nach eigenen Regeln, die als gut und richtig gelten. Auf der anderen Seite wird auf die Heranwachsenden wie auch auf deren Erziehung die Gefahr entfesselter unkontrollierbarer Kräfte projiziert. Dies mag ein Grund dafür sein, dass sie letztlich als grundsätzlich inferior gegenüber solchen gesellschaftlichen Instanzen gelten, die mit der Seite der Rationalität und mit rationaler Kontrolle in Verbindung gebracht werden.
Vor dem Hintergrund dieser Argumentation erscheint plausibel, dass eine andere Auslegung des Begriffs Körper bzw. Körperlichkeit im Allgemeinen, insbesondere eine Untersuchung kindlicher Körperlichkeit dazu beitragen können, die genannten Zuschreibungen in Frage zu stellen.
Die Körperlichkeit bildet nachweislich die Grundlage für unser Selbst- und Weltverhältnis, das durch unsere Wahrnehmungen, Empfindungen, (Sinnes-)Eindrücke von Geburt an erst konstituiert und stetig ausdifferenziert wird. Denn der Körper ist die Kontaktfläche, an der zeitlebens weitgehend unbewusst, semibewusst oder seltener auch bewusst entschieden wird, wo die Grenzen zum Ichfremden gesetzt und wo dialogische Brücken hergestellt werden. Nach phänomenologischem Verständnis haben solche weitgehend unmerklich getroffenen Entscheidungen die unser Denken bestimmenden Unterscheidungen erst zur Folge. Legt man Lernen als einen Prozess aus, in dem das Eigene von Ichfremdem abgegrenzt und Beziehungen zu diesem aufgenommen werden, so liegt die These nahe, dass unsere Körperlichkeit Lernprozesse entscheidend lenkt.

In einem ersten Schritt wollen wir solche präreflexiven Strukturen und Prozesse, die dem Lernen zu Grunde liegen, eruieren.
Unsere These, dass die konstituierende Körperlichkeit Lernprozesse entscheidend lenkt, lässt in erster Linie Altersunterschiede ins Blickfeld treten. Die konstituierende Körperlichkeit eines Neugeborenen unterscheidet sich grundsätzlich von der eines Kindes in der Vorpubertät; ein Erwachsener lernt anders als ein Heranwachsender. Zudem liegt die Annahme nahe, dass auch kulturelle Unterschiede eine wichtige Rolle spielen.
Vornehmlich mit den konstituierenden Aspekten der Körperlichkeit befasst sich die Phänomenologie und deren Methodologie im Sinne Husserls, Merleau-Pontys, Waldenfels´ und anderer. Im Zusammenhang phänomenologischer Theoriebildung wird hier von Leiblichkeit gesprochen. Die Phänomenologie eignet sich daher zur inhaltlichen Bestimmung der konstituierenden Aspekte der Körperlichkeit bzw. der konstituierenden Leiblichkeit und darum auch zur Entwicklung der Items unserer empirischen Untersuchung. Zur Itembildung bedienen wir uns vornehmlich der von Waldenfels herausgearbeiteten Aspekte des Aufmerksamkeitsgeschehens und einer Phänomenologie der Stimme (Waldenfels, Lange u.a.). Mithilfe der phänomenologischen Methodologie lassen sich alters- und kulturabhängige Einzelaspekte der konstituierenden Leiblichkeit qualitativ empirisch erschließen sowie explorativ ausdifferenzieren. In unserem empirischen Forschungssetting bestimmen die methodischen Schritte der Phänomenologie nicht nur die wissenschaftliche Beobachtung, sie werden auch durch den Einsatz künstlerischer und kunstnaher Arbeitsprozesse nachvollzogen: In einem nonverbalen Verständigungsprozess bringen KünstlerInnen und Kinder zum einen eher intuitiv individuelle Aspekte selbst- und weltkonstituierender Leiblichkeit zum Ausdruck. Zum anderen spüren sie in der Äußerung eines Anderen Praktiken, vorsprachliche Sichtweisen und Verhaltensformen auf und werden so selbst zu Forschern.

In einem zweiten Schritt werden die Forschungsergebnisse zu praktischen Beispielen und Unterrichtsmaterialien verdichtet und empirisch ausgewertet. Dabei wird die Konstituierende Leiblichkeit zum zentralen Lern- und Unterrichtsprinzip gemacht. Durch eine am performativen Spielbegriff orientierte Inszenierung soll sie Eingang in die Konzeption von Unterricht finden. Unser didaktisches Modell entwickeln wir zunächst mit Blick auf den Kunstunterricht, um es dann auf andere Schulfächer zu übertragen und anhand von Unterrichtsbeispielen empirisch auf die Probe zu stellen.

Die erhobenen Daten werden von internationalen WissenschaftlerInnen verschiedener Fachrichtungen in eigene Forschungszusammenhänge integriert. Es handelt sich um folgende KooperationspartnerInnen mit folgenden Arbeitstiteln:

Universität Innsbruck
Prof. Dr. Helga Peskoller (Kultur- und Sozialwissenschaft):
Der Zusammenhang von Erfahrung und Bildung vor dem Bezugshorizont und unter der Perspektive der inneren und der äußeren Natur des Menschen und vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Diskurses zum Ästhetischen Denken.

Universität "Hl. Kliment Ohridski" Sofia
Prof. Dr. Iliana Mirtschewa (Erziehungswissenschaft)
Positive und negative Seiten des frontalen und des offenen Unterrichts auf der Grundlage der durch die „Öhrchen-Installation“ erhobenen Kinderäußerungen im Kulturvergleich.

Freie Universität Berlin
Juniorprofessorin Dr. Renate Söllner
Evaluation der im Rahmen des Forschungsprojekts entwickelten Unterrichtseinheiten.

Universidad del Comahue/ Neuquen
Lic. Stela Ferrarese (Sportwissenschaft):
Spezifika nonverbaler Kommunikation deutscher, finnischer und argentinischer Kinder in der Vorpubertät als Kulturvergleich (siehe Anlage).


PÄDAK Wien
Dr. Katharina Rosenberger (Erziehungswissenschaft):
1. Die leibliche Dimension der Integration behinderter Kinder“: Die Integrations- bzw. Inklusionspädagogik fordert LehrerInnen in der Schule heraus, mit mitunter sehr unterschiedlichen Leiblichkeiten ihrer SchülerInnen  umzugehen. Es stellt sich die Frage, wie diese heterogene Situation in ein Ganzes zu bringen ist. Die Studie befasst sich mit den Möglichkeiten und Grenzen dieser Herausforderung und sucht konstruktive Lösungswege.
2. Beitrag zum Erziehungs- und Unterrichtsprinzip der Kindgemäßheit im Verhältnis zu dem der KL.

MPI-Florenz
Dr. Nicola Suthor (Kunstgeschichte),
Interaktion zwischen KünstlerInnen und den Kindern unter dem Aspekt gegenseitiger „Ansteckung“.

Dr. Phoebe von Held (Romanistik), London:
Herausarbeitung der verschiedenen Mitteilungsebenen der Stimme anhand des im Zusammenhang des Projekts erhobenen empirischen Materials und Untersuchung unter der Fragestellung, welche dieser Ebenen durch die mitwirkenden KünstlerInnen rezipiert werden.

Dr. Caroline Gros (Philosophie) in Marseille:
La mise en jeu du corps dans l'espace à travers les jeux et les jeux de rôle.
Comment l'accès aux vécus fondamentaux de l'enfant se met en scène à travers le corps, travers des dessins.

Phil. Mag. Thorsten Tynior (Kulturwissenschaften), Dresden:
Gesten des Sprechens und die Grenze des Sinns. Das Verhältnis von Ausdruck, Affektivität und Sprache soll anhand psychoanalytischer und entwicklungspsvchologischer Sprachkonzeptionen und mit Bezug auf Überlegungen zum Zusammenhang von Geste und Stimme herausgearbeitet werden.

Text.
Dr. Anja Kraus, Juniorprofessorin
Institut für Erziehungswissenschaft
Abteilung Schulentwicklung- und Unterrichtsforschung
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