Friedericke Hühnermann schreibt Rezension über Online-Schaltung virtuellesparlament.de

Vom Kneipenstammtisch über den Chat-Room zum Virtuellen Parlament

Schauplatz Thüringen am 11. August 2009, 19.00 Uhr: Während die  Landesregierung im Deutschen Nationaltheater Weimar die Politprominenz zur Feierstunde empfängt, versammeln sich im 50 Kilometer entfernten, tief im Thüringer Wald gelegenen Schwarzburg etwa zwei Dutzend Männer und Frauen aus gleichem Anlass: Genau vor 90 Jahren unterzeichnete Friedrich Ebert die folgenreiche Weimarer Verfassung in Schwarzburg, damals eines der angesagten Feriendomizile des Deutschen Reiches.

Was beide Veranstaltungen auf den ersten Blick unterscheidet: die „Offiziellen“ gedachten dem Anlass im freilich einst revolutionären Aufklärer-Theater, wohl auch wegen der historischen Kostüme, welche die Leidenschaften auf der Höhe der Zeit zu halten vermögen. Die „Inoffiziellen“ dagegen trafen sich genau in dem Raum, wo sehr wahrscheinlich die für Deutschland so folgenreiche Verfassung unterschrieben wurde. Richard Dewes – SPD-Konkurrent von Christoph Matschie und Ex-Innenminister des Landes Thüringen – erklärte dies dem kleinen Schwarzburger Kreis. Fernab von Weimar und der noch ferneren Hauptstadt Berlin „definierten“ hier Ebert und sein Kabinett 1919 das einst monarchistische Deutsche Reich zur neuen demokratisch verfassten Republik um.

90 Jahre danach versammeln sich etwa zwei Dutzend Frauen und Männer aus der „Mitte des Volkes“ im großen Speise- und Veranstaltungsraum des Hotels „Weißer Hirsch“ – einstige Prominentenherberge und ehemaliges Ferienheim des „Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes“ der DDR. Der gemeinnützige Bildungsverein Weimar-Jena-Akademie hatte im Kontext des Inkrafttretens der Weimarer Verfassung zur Online-Schaltung des „Virtuellen Parlaments“ (VIPA) geladen – eine Internetplattform, die jedem Bürger offen steht, sich als Netzparlamentarier an der künftigen politischen Gestaltung der Republik direkt zu beteiligen.

Aus Schwarzburg kamen Mitglieder des Vereins zum Wiederaufbau des hoch gelegenen Schlosses. Letzteres haben die Nazis 1940, besessen von der wahnwitzigen Idee, ein bombensicheres Gästehaus des Führers zu errichten, als  Investruine hinterlassen. Aber auch der Pfarrer des seit 1990 um die Hälfte geschrumpften Kleinstädtchens, Künstler aus Berlin, Politiker aus der Region, ein Professor der Physik und Ex-Innenminister Richard Dewes versammelten sich an der großen, hufeisenförmigen Tafel. Normalerweise feiern hier die Schwarzburger  ihre Familienfeste, nun aber verblieben noch 20 Minuten bis zur Freischaltung des freilich recht utopisch anmutenden virtuellen Bürgerparlaments im Internet.

„Welche Schwierigkeiten muss es bereiten, wenn – wie in der Weimarer Verfassung proklamiert – „jeder Deutsche (…) unbeschadet seiner persönlichen Freiheit die sittliche Pflicht (hat), seine geistigen und körperlichen Kräfte so zu betätigen, wie es das Wohl der Gesamtheit erfordert’?“ „Und wie sollen die Abgeordneten ‚Vertreter des ganzen Volkes’ sein, wenn ihnen die Mittel fehlen, mit diesem Volk ständigen Kontakt zu halten?“. Der Erfinder des Virtuellen Parlaments, der Dresdner Kulturwissenschaftler Klaus Nicolai, verwies in seiner kurzen Einführung vor der Online-Schaltung am Beispiel des Weimarer Verfassungstextes auf ein eklatantes Grundproblem des bürgerlichen Parlamentarismus: Das Verhältnis zwischen Abgeordneten und den Millionen Bürgern sei ein weithin unvermitteltes und die heutige „Zuschauerdemokratie“ bestehe „nur aus wenigen aktiven Sendern und vielen politisch passiven Empfängern“.

Vertretung heißt immer Abtretung von politischer Gestaltungsmacht und dies sei auf unterschiedliche Weise auch in den beiden geteilten deutschen Nachkriegsstaaten eine Ursache für das Abgleiten der Demokratien in „Unterhaltungspolitik“ oder „politbürokratischen Zentralismus“.  Dort, wo die technologischen Voraussetzungen einer universellen politischen Vermittlung und Verständigung fehlen, drohen die Übermacht der Repräsentanten und die Gefahr des politischen Realitätsverlustes sowohl bei den Parteipolitikern und ihren „Sendeanstalten“ als auch bei den Bürgern.

Jede Form der Demokratie trage deshalb so lange einen latent illusionären oder utopischen Charakter, als es an Kommunikationsmedien mangelt, welche eine permanente Verständigung und Abstimmung zwischen allen Bürgern ermöglichen. Diesbezüglich biete das Internet ein historisch völlig neues Potenzial, um lokale, regionale, nationale und globale politische Abstimmungen jenseits imperialer Machtzentrierung tatsächlich zu vernetzen. Das „Virtuelle Parlament“ sei in diesem Kontext, so Klaus Nicolai von der Dresdner Trans-Media-Akademie Hellerau, der wohl weltweit erste Prototyp eines „für alle offenen politischen Wissens- und Entscheidungsgenerators jenseits des Parteienparlamentarismus“.

Und dann war es auch schon soweit: Auf der Projektionsfläche leuchtete die seit Wochen im Netz stehende Begrüßungsseite mit Zeitanzeige. Pünktlich 20.00 Uhr schaltete der entsprechend programmierte Server auf die Startseite von „www.virtuellesparlament.de“ um. Die Gäste erhoben sich, spendeten Beifall und erhoben ihre Sektgläser. „Hat jetzt hier wieder ein neues politisches Zeitalter begonnen?“ fragt einer aus der Runde. „Da braucht es vielleicht keine 90, sondern nur neun Jahre, bis dies politische Wirklichkeit wird!“ ruft Nicolai mit Verweis auf die unglaubliche, uns alle herausfordernde Entwicklung des „Social Network“.

Die Foren und Chat-Rooms bilden die „politischen Stammtische der Zukunft“. Von dort aus sei der Weg nicht so endlos weit wie der vom Schwarzburger Vereinstreff im „Weißen Hirsch“ bis zum Berliner Parlament. Überall an den realen wie virtuellen „Stammtischen“ könne man sich nun nicht mehr nur über politische Zustände aufregen oder belustigen, sondern Konzepte entwickeln, die dann in den Foren, Ausschüssen und im Plenum des „Virtuellen Parlaments“ in der neuen politischen „Netzöffentlichkeit“ diskutiert werden. Bei Konsens im Plenum geht der Vorschlag dann direkt auf die Abstimmungsplattform, wo jeder Internetnutzer über jeweils drei Alternativen per Mausklick entscheiden kann.

Bei aller spontanen Zustimmung verwiesen die Gäste in der streitbaren Diskussion auf nicht wenige handfeste Probleme: Was wird, wenn das Virtuelle Parlament von Extremisten, von professionell agierenden Organisationen, Parteien oder wirtschaftlichen Interessengruppen besetzt wird? Wie viel Zeit, Anstrengung und Wissen sind notwendig, um ein Forum zu gründen oder als Moderator bis in das Plenum hinein zu agieren? Wer hat diese Zeit? Wie verbindlich müssen die Anmeldungen der Netzparlamentarier und VIPA-Wähler sein? Wie kann das  junge Team um Klaus Nicolai diesen Prozess redaktionell begleiten? Wie soll die angestrebte Open-Source-Entwicklung der VIPA-Software begutachtet und integriert werden? Warum kommen solche Vorschläge nicht aus den Universitäten und Technischen Hochschulen des Landes? Und wie kann das Virtuelle Parlament die „Realdemokratie“ beeinflussen und verändern?

Den vier Vorreitern der Netzdemokratie – ein kleines interdisziplinäres Team – sind diese Fragen nicht unbekannt. Sie nennen ihre Plattform eben auch wegen der noch ungelösten Probleme „VIPA-Prototyp“. Neben einer breiten netzparlamentarischen Bewegung geht es um den Aufbau einer Redaktion sowie um die Beteiligung kompetenter Redaktionsbeiräte aus dem ganzen Land. Darüber hinaus soll in nicht allzu großer Ferne ein weiter entwickelter englischsprachiger Prototyp Online gehen. Das Potenzial ist vorhanden! Nun sind uneigennützige Unterstützer gefragt: Stiftungen, Sponsoren und Privatpersonen mit ausgeprägtem Sinn für Zukunftsprojekte. Die politische und ökonomische Unabhängigkeit von VIPA ist allerdings ein wichtiger Garant dafür, dass die Netzplattform nicht durch Einzelinteressen dominiert wird. Die Bundeszentrale für Politische Bildung hat einen Beitrag geleistet, um das schon im Frühjahr 2006 von Klaus Nicolai konzipierte VIPA Projekt ins Netzt zu bringen. Weiter so!

Allerdings glänzten in Schwarzburg Journalisten und – bis auf den Gastwirt vom „Weißen Hirsch“ – Vertreter der Wirtschaft durch Abwesenheit. Nur die „wichtigsten“ Unternehmer und Berichterstatter aus Thüringen haben wohl dafür eine echte „Entschuldigung“: Im Weimarer Nationaltheater spielte ja wohl die eigentliche Musik, oder? Aber was soll’s, einige Stunden nach der Online-Lounge am kleinen „Stammtisch“ in Schwarzburg hatten schon knapp 1500 Bescher die VIPA-Internetplattform auf direktem Weg besucht. Der Termin kursierte fast unbemerkt von den Sende- und Verlagsanstalten längst in den Internet-Communities und Chat-Rooms.

In diesem Kontext kann man durchaus auch ein klassisches Printmedium wie „Die Zeit“ zitieren. Unter der Headline „Stammtische – Die unerhörte Macht“ steht geschrieben: „Und wie viel Angst der Oberen, dass sich hinter Wirtshausfenstern eine dezentrale Öffentlichkeit ihre eigenen Gedanken macht, autonom, im Verborgenen – von den Medien nicht eingefangen, von den Demoskopen nicht abgefragt.“ (Peter Dausend, Henning Sussebach; Die Zeit Nr. 33/ 6.8.2009, S. 11) Was aber, wenn die unerhörte Macht „Draußen im Lande“ sich im Netz organisiert und über ganz andere politische Vorschläge abstimmen lässt als der Bundestag? Darüber berichtet „Die Zeit“ momentan noch nicht – denn bisher haben sich nur wenige Netzparlamentarier auf der Plattform versammelt. Aber das kann sich rasch ändern!

Friederike Hühnermann



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