Historische Kontexte der Performance »Slump Dance«


Das Festspielhaus hat auf eine sehr drastische Weise fünf politischen Systemen Raum für unterschiedlichste Zwecke geboten: Das Kaiserreich bildete am Vorabend des 1. Ersten Weltkrieges den scheinbar paradoxen Hintergrund für das herausragende Projekt der Reformbewegung. In der Weimarer Republik standen vor allem neue Bildungsmodelle im Zentrum der Aufmerksamkeit und das Nazireich verwandelte 1936 das Areal – nachdem Pläne für eine Reichsrundfunksendeanstalt verworfen wurden – in eine Panzerkaserne. Nach dem Krieg boten die Gebäude bis 1991 Raum für ein sowjetisches Lazarett, wobei das Festspielhaus als Sporthalle fungierte.
1993 zog dann die gemeinnützige Verein Europäische Werkstatt für Kunst und Kultur Hellerau ein und stellte unter Leitung von Detlev Schneider das Experiment bzw. Labor in das Zentrum seiner Aktivitäten. 2004 verlor der Verein die Hoheit über das Areal zugunsten einer städtischen Betreibung. Dem Experiment folgte der geordnete, finanzregulierte internationale Spielplan in „ordentlich“ sanierter Umgebung. Das Festspielhaus als ein Ort der europäischen und Weltkultur changiert vielleicht immer noch latent zwischen Anstalt, Labor, Kaserne, Institut und Spielplan?
So war einstmals der Schritt oder Sturz aus dem antiken ornamentalen Sonnenfries in das Hakenkreuz oder von der Rhythmik zum völkischen Tanz nur ein kleiner. Aktivisten wie Gret Palucca und Mary Wigman fanden sich rasch in der völkischen Tanzpolitik ein. Sogar der Erfinder des modernen choreografischen Notationssystems – Rudolf von Laban – stand bis zu seinem Bruch mit dem Naziregime an oberster Stelle der nationalsozialistischen „Tanzbewegung“. Auch Mary Wigman distanzierte sich im Laufe der 30er Jahre vom NS-Regime und wurde so aus ihrem Dresdner Studio – in das fortan eine „braune“ Tanz-Oberin einzog – nach Leipzig vertrieben. Wir nennen seit DDR-Zeiten das verwaistes Haus nach ahnungsloser Dresdner Art immer noch „Kleine Szene“ und geben es dem Vergessen, gar dem Verfall preis…
Vielleicht sind vor diesem Hintergrund scheinbare ästhetische Novitäten der aktuell im Festspielhaus präsentierten „Global-Avantgarde“ mitunter nur Idiome für mehr oder weniger austauschbare Oberschichten des erwählten Geschmacks oder einer totalen Inbesitznahme durch legitimierte Autoritäten und Labels? Aber in bester Tradition geht heute im Areal alles wieder durch den Körper. Der Tanz, die Bewegung und der Raum stehen – Gott sei dank! –, wie authentisch, artifiziell oder abgehoben auch immer, wieder im Zentrum der Aufmerksamkeit.
Bei Slump Dance geht es um Brüche, um Bewegungen am Rande der ästhetischen und existenziellen Abgründe, eben auch um historische Absturzstellen dieses Ortes jenseits artistischer Spitzen-Dressur. Slump Dance möchte neben ironisch gemeinten Konstellationen zwischen Tanz und Musik auch Einblicke in kulturhistorische „Kurven“ der Körperbewegung vermitteln. So erscheint das Rotieren um die eigene Körpermitte im spontanen kindlichen Ausdrucksverhalten, in islamischen Derwischtänzen, im bayrischen Dirndl-Drehen wie auch in avantgardistischen Choreografien etwa von Anna Theresa De Keersmaker (Fase) oder jüngst bei Eduard Lock (La La La Human Stepps). (Die beiden letztgenannten Arbeiten waren übrigens auch in Hellerau – Europäisches Zentrum der Künste – zu sehen.) Auch am Beispiel der „Rotations-Kulturen“ bewegt sich Slump Dance durch unterschiedliche Bewegungs-Sinn-Horizonte hindurch, mischt diese, bricht und überformt sie so, dass sie in ihrer leibhaftigen Differenz und Konsequenz wahrnehmbar werden.

Zur technischen und räumlichen Anlage des A.P.P.I.A. Lab_1.1


Die Grundelemente des A.P.P.I.A. Lab_1.1, wie auch der Performance-Installation Slump Dance basieren auf einer klaren Anordnung von Funktionen, Raumkonstellationen und technischen Parametern. Man kann in diesem Zusammenhang von einer in sich strukturierten Versuchsanordnung sprechen, in die die Bewegungen der Körper – ganz im Sinne von Appia – hinein-, hinaus-, über- und umgesetzt werden. Darüber hinaus erlangen die individuellen Körper durch die enorme Flexibilität virtueller Klang-Bild-Umgebungen auch eine stärkere Wesentlichkeit oder auch Macht.
Acht Plateaus bieten den inneren Zirkel einer die gesamte, an den Stirnseiten durch die Zuschauertribünen begrenzten, Spielfläche. Die kreisförmig zentral angeordneten Sockel von zwei mal zwei Meter Fläche (Höhe 37 cm) sind die expliziten Positionen, denen jeweils ein Profil-Scheinwerfer, eine Infrarotkamera und zwei Naturschallwandler zugeordnet sind. Jedes Plateau bildet eine interaktive virtuelle Klang- sowie eine physische Lichtumgebung. Alle weiteren Demonstrationen und Workshop-Projekte im A.P.P.I.A. Lab_1.1 basieren zur CYNETART 2011 ebenfalls auf dieser inneren, aus Sockeln bestehenden Anordnung mit entsprechender Camera-Motion-Sensing- sowie Licht- und Projektionstechnik. Der Raum um und zwischen den Sockeln bildet eine zweite Spielebene, welche sich zwischen den einzelnen Akten in eine interaktive Bildfläche wandelt. Jedem Sockel sind nach der Innenseite der Plateaus zwei Naturschallwandler zugeordnet. Diese Beschallungstechnik wird erstmals in dieser exponierten künstlerischen Anordnung experimentell angewendet. Die natürliche Ausstrahlung des Schalls direkt neben den Plateaus ermöglicht mit hoher Wahrscheinlichkeit sowohl eine räumliche Zuordnung zu den jeweiligen Orten der Klangsteuerung als auch eine räumliche Wahrnehmung aller Klangquellen von unterschiedlichen Positionen des großen Festspielsaales. Damit ist das innovative Beschallungssystem den prinzipiell a-perspektivisch angelegten virtuellen Klangumgebungen und der X-Dimensionalität von akustischer Wahrnehmung mit großer Sicherheit angemessener als eine wie auch immer subtile Anordnung von üblichen punktuellen technischen Schallquellen.
Während die Sockel einen Ort der Ausstellung von performativen Körper-Klang-Licht-Prozessen bilden, fungiert der restliche Projektionsraum (worin die Flächen der Plateaus bis auf das letzte Bild ausgeschnitten sind) als kultureller Un-Ort des Identitätswechsels zwischen den Performances: Hier kleiden sich die Tänzerinnen für ihren nächsten „Auf-Tritt“ um und beeinflussen dabei unabsichtlich die Bodenprojektion im Sinne einer auf das Unbewusste wirkenden brüchigen Kultur- und Herrschaftssymbolik. Dazu sind zwei Projektoren verbunden mit zwei Kalypso-Motion-Sensing-Systemen in entsprechender Höhe über dem Saalboden angeordnet.

© Klaus Nicolai

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