picidae
Jury-Statement
Die Grenzenlosigkeit des Internets ist eine Illusion, vielmehr führen Willkür, wirtschaftliches Eigeninteresse und autoritäre Strukturen zur Einschränkung des freien Informationsflusses und Selbstausdrucks. »Picidae« ermöglicht Internet-Benutzern, auf kreative Weise Zensurmechanismen und Einschränkungen von Informationsfreiheit zu unterwandern. »Picidae« verlagert die schriftliche Information auf die visuelle Information, vom Wort auf das Bild: alles ist im Bild enthalten. Eine gebräuchliche künstlerische Praxis wird somit zu einem politischen Tool. Um die Kontinuität des Projektes zu ermöglichen, hat die Jury sich entschlossen, diese Arbeit durch die Vergabe des Förderpreises der Staatsministerin für Wissenschaft und Kunst zu unterstützen.
[ o ] Picidae
Grenzen der Wahrnehmung und Ãœberwindung der Zensur – ein Medienkunstprojekt als Selbstversuch
Das Projekt »Picidae« von [[Christoph Wachter]] und [[Mathias Jud]] erkundet unsere eigenen Vorstellungen, die Wahrnehmung und die Sprache und tastet deren Grenzen ab. Unser alltägliches Kommunikationsmedium Internet wird gleichsam zum Untersuchungsobjekt und zum Mittel der Untersuchung.
Das World Wide Web verspricht per definitionem einen weltweiten virtuellen Freiraum. Doch faktisch ist es ein heterogenes Gebilde. Die Zugriffsmöglichkeiten sind sortiert durch Dienste, übermittelt durch Provider und von Behörden überwacht. Das Internet unterliegt folglich regionalen oder nationalen, kulturellen, rechtlichen, sprachlichen, ökonomischen, religiösen und politischen Bedingungen. Diese Bedingungen verändern auch die Handhabung und Bedeutung des Mediums, sie verändern den Gebrauch der Sprache, generieren Tabuzonen oder Aussparungen, beeinflussen die Darstellungsmöglichkeiten, den individuellen Ausdruck.
Bildwelt – Weltbild / Ich ist ein anderer
Das Internet verkörpert die Vorstellung globaler Gleichheit und Gleichzeitigkeit. Als alltägliche Kommunikationsplattform erscheint uns das WWW selbstverständlich und nahezu bedingungslos. Die Idee des unendlichen Freiraums blendet die spezifischen Bedingungen unterschiedlicher Zugänge aus und projiziert stattdessen eigene Gewohnheiten als Erwartung an andere.
Wer wäre ich, wenn ich am anderen Ende dieses Internets geboren wäre? Wie würde ich diese Welt sehen?
»Picidae« ermöglicht eine andere Perspektive, erlaubt die Betrachtung anderer Internetzugänge und damit auch die Betrachtung gesperrter Internetseiten. »Picidae« wird so zu einem Werkzeug, um etwas über unsere Vorstellungen und Wahrnehmungsbedingungen zu erfahren. Der eigene Internetzugang wird zum spezifischen Ort im globalen Netz. Die eigene (Internet-)Ansicht ist nicht die einzige und folglich nicht zwangsläufig die richtige. Anhand der globalen Kommunikationsplattform scheinen jene identitäts- und
wirklichkeitskonstituierenden Kräfte auf, die uns durchdringen: Sprache, Vorstellung, Konvention, Kultur, Machtverhältnisse. In der Ansicht des Internets wird unvermittelt sicht- und spürbar, was Michel Foucault als Dispositiv beschrieb. Die individuelle Wahrnehmung und die eigene Auffassung können durchdrungen sein, gesteuert, gelenkt, überwacht oder beschränkt.
»Picidae« wird zum Prüfstein von Open Privacy und virtueller Identität. Individuell lässt sich nachforschen, wie weit die eigenen Sichtweisen anhand unterschiedlicher Zugänge gegeben sind – wie weit die Vorstellungen von „ich“ auch an anderen Orten funktionieren.
In der DDR waren westliche Medien tabu. Dennoch wurde von Vielen Westfernsehen gesehen. Nur ein topografisch abgeschirmter Teil um Dresden hatte keinen Empfang. Diese Gegend nannte man das „Tal der Ahnungslosen“.
Als Stipendiaten der Werkleitz Gesellschaft in Halle (Saale) erfuhren wir über die Geschichte von anderen Blickwinkeln und anderen Kommunikationsbedingungen. In Anlehnung an die sogenannten Mauerspechte, jene Bürger, die erste Löcher in die Berliner Mauer schlugen, starteten wir unser Projekt »Picidae« (sprich pikidä – lateinisch für Specht). Unterschiede in der Kultur und Kommunikation zeigen, dass die globalen Konzepte von Kunst und weltweitem Austausch eine Illusion sind. Kunst sollte uns zur eigenen, freien Betrachtung und Darstellung dienen. Wie aber können wir uns einer Definitionsmacht widersetzen, die in unsere Sprache und in unsere eigene Vorstellung eingeschrieben ist?
Wir entwickelten Strategien, die eine individuelle Ansicht erproben, die (selbst)kritisch Zuschreibungen und Vorgaben analysieren sowie bestehende Grenzen und Schranken abtasten.
Mit »Picidae« wächst eine Community, die dem Internet ein eigenes Netzwerk implementiert. Die Vernetzung stützt sich jedoch nicht auf bekannte Bezeichnungen oder Codes, um nicht auch in den Fängen der Steuerung und Kontrolle zu landen. Bilder von Webseiten dienen als digitale Verschlüsselung und ermöglichen die Umgehung von Filter, Redirect, Ranking, Rating und Zensur.
China bildet einen Kontrast zu unseren Erfahrungen in Halle: eine rasante wirtschaftliche Entwicklung vollzieht sich unter dem nach wie vor herrschenden kommunistischen Regime. Die Machthaber errichteten den Golden Shield, eine immense Filteranlage, mit der sie das Internet zensieren. In geheimer Mission besuchten wir streng überwachte chinesische Internetcafés. »Picidae« bewährte sich und belieferte uns mit unterdrückten Webseiten.
Seit der Veröffentlichung im Herbst 2007 wird »Picidae« in China, im Iran, in Dubai und in nordafrikanischen Ländern zur Betrachtung von Webseiten genutzt. Auch in Europa ist das Projekt Prüfstein für die zunehmende Steuerung und Manipulation des Internets. Als Kunstprojekt macht es diese auf eine neue Weise sichtbar.
Die Installation umfasst vorkonfigurierte Computerplätze und einen laufenden pici-Server. Das Internet wird als heterogenes Gebilde erfahrbar. Spezifische Bedingungen wirken auf unsere Handhabung, sie verändern den Gebrauch der Sprache, generieren Tabuzonen oder Aussparungen. »Picidae« entwirft Strategien, um sich ein eigenes Bild zu machen von den Grauzonen der Wahrnehmung und den Bereichen der Macht und Ohnmacht.
Der pici-Server
Mittelpunkt der Installation ist der kleine pici-Server. Hier empfängt er die Webseiten. Von anderen Orten ist die Quersicht auf diesen Zugang möglich. pici-Server sind Teil des Internets und gleichzeitig dessen Metaebene. Sie können diesen pici-Server während der Ausstellung erreichen unter http://wien.picidae.net.
Von html-Webseiten liefert der pici-Server Abbilder, die selbst wieder klickbar sind. Die Bilder unterwandern Redirects, Ranking, Rating, Filterung und Zensur. Ein solcher pici-Server bewährte sich während unserer Tests in chinesischen Internet-Cafés und lieferte uns aus der Schweiz die in China zensierten Webseiten. Selbst in vorkonfigurierten Browsern sind die als Bilder codierten Webseiten frei, einfach und weltweit zugänglich – genau so, wie es die Idee eines World Wide Web einst versprach.
Bilder statt Worte
»Picidae« nutzt Bilder als digitale Verschlüsselung. Surfen Sie via »Picidae« und vergleichen Sie Original und Abbild. Weil das Projekt die Kontrolle unterläuft, kann es selbst zur Zielscheibe der Zensur werden. Sprachunabhängige Erkennungszeichen und neue Kommunikationskonzepte sind deshalb Teil des Projekts.
Eine Community bilden
Eine wachsende Community implementiert dem Internet mittels pici-Server und pici-Proxies ein eigenes Netzwerk. Die eigene, subjektive (Internet)Ansicht wird relativiert und mit anderen Zugängen vergleichbar. Alle können sich an »Picidae« beteiligen, das Projekt weiter vernetzen und neue Varianten von Konzept und Code generieren. Durch die vielfältigen Ausprägungen entsteht ein chaotisches Netzwerk, das nicht erfasst, abgeschaltet, gefiltert oder zensiert werden kann.
Blinde Flecken betrachten
Nicht nur staatliche Behörden steuern unsere Kommunikation, auch Dienstleister nehmen Redirects vor, Suchergebnisse sind regional unterschiedlich, Portalbetreiber und Provider lenken die Nutzer, Firewalls schränken am Arbeitsplatz den Zugang zum Internet ein. Diese Kräfte, die im alltäglichen Umgang wirken, sind meist kaum sichtbar. Selbst in China ist die Internetzensur als Netzwerkproblem getarnt. »Picidae« kann die Zensur sichtbar machen. Wir begeben uns auf eine empirische Spurensuche nach den blinden Flecken.