Exzess, Präzision und Anwesenheit: Dani Ploegers »ELECTRODE«. Eine psychophysische Perspektive.1
Dr. Alissa Clarke, De Montfort University, Leicester (UK)
Julia Kristevas Beschreibungen des abjekten Körpers (1982) hallen in Ploegers Arbeit ELECTRODE wider. Der undichte Körper und der Exzess werden betont, indem der Künstler medizinische Vorrichtungen, die normalerweise zur Behandlung von Stuhlinkontinenz angewendet werden, dazu nutzt, das Schließmuskelkontraktionsmuster einer anonymen Versuchsperson während Masturbation und Orgasmus nachzuahmen. Ein solcher Exzess verweist auf das soziale Schamgefühl und das Verschweigen, welches das (kontrollierte und unkontrollierte) Auslaufen eines Körpers zumeist begleitet und das in dem begründet ist, was Hélène Cixous als die Privilegierung dessen versteht, was sie als «propre« bezeichnet. Propre bezieht sich auf alles, dass «anständig«, «angemessen« und «sauber« ist. Zudem enthält es Andeutungen von Besitz und Aneignung (vgl. Wing 1996 [1986]: 167). Im Kontrast zum Streben nach dem reinen, kontrollierten und umgrenzten Körper unterstreicht Ploeger seine Anwendung einer «tabuisierten medizinischen Technologie« und deren Assoziation mit dem brüchigen, unanständigen Körper (2011). Ploeger hebt hervor, dass dies dazu führt, dass so eine Lesart des Werks im Sinne normativer Genderrollen in Verbindung mit digitaler Technologie dort untergraben wird, wo solchen normativen Geschlechterzuschreibungen Aspekte aus dem Bereich utopischer Visionen einer Zukunft mit Superman-Cyborgs anhafteten (vgl. 2011). Tatsächlich wird die selbstbewusste, beherrschende, raumgreifende Haltung, die Ploegers sorgfältig gepflegter normgebender weißer Männerkörper einnimmt (vgl. Whitehead 2011), bewusst durch seine Entblößung und die Verletzlichkeit gebrochen, die das Objekt umgibt, das in seinen Körper eingeführt ist.
Diese gegenläufige Positionierung wird zusätzlich durch den Kontrast verstärkt, der sich zwischen dieser Zerbrechlichkeit und der technologisch vermittelten, nicht-alltäglichen Praktik ergibt, die Ploeger während der Performance anwendet. Der psychophysische Theaterregisseur und -fachmann, Eugenio Barba, charakterisiert nicht-alltägliche Praktiken als Strategien, die eine intensive Re-Enkulturation des Körpers beinhalten, die gewohnheitsmäßigen Mustern der täglichen Bewegung völlig entgegengesetzt sind oder diese überhöhen (Barba und Savarese 1991: 10). Barba argumentiert, dass nicht gewohnheitsmäßige Bewegungsmuster durch «Vor-Expressivität« entwickelt werden, ein biologisches vorkulturelles Stadium, das während des performativen Ausdrucks aller Darsteller gegenwärtig, sowie diesem vorausgehend ist. Dieses Stadium ist in den üblichen technischen Prinzipien verwurzelt, die bei der Herausbildung einer Darstellungspräsenz angewendet werden und die alle Sphären von Kultur und Geschichte umfassen (Barba & Savarese 1991: 186–204). 2 Barba beschreibt körperliche Gegensätze als ein Schlüsselprinzip der «Vor-Expressivität«, und er unterstreicht wie der «Tanz der Gegensätze« im nicht alltäglichen Körper des Darstellenden (Barba and Savarese 1991: 176) im Idealfall einen «body – in – life« hervorbringt, der die Anwesenheit des Darstellenden und die Wahrnehmung der Zuschauer erweitert (Barba and Savarese 1991: 54). Genau das passiert in Ploegers ELECTRODE. Denn durch die Neuaneignung eines frei erhältlichen medizinischen Geräts webt der Künstler ein Netz der Gegensätze, die zwischen Genauigkeit und Exzess verortet ist.
Die absolute Präzision der Arbeit liegt in Ploegers vollständiger, verkörperlichter Konzentration auf das spezifische Schließmuskelkontraktionsmuster. Das wird ermöglicht durch die großflächige Projektion der Graphen, die Kontraktionsmuster der ursprünglichen Versuchsperson verzeichnen und durch die Echtzeitregistrierung des Kontraktionsmusters des Künstlers. Der Schauspiellehrer für psychophysische Praktiken, Phillip Zarrilli, formuliert einen solchen Fokus als eine Wahrnehmung gewissenhafter Aufmerksamkeit im Moment der Vorstellung oder Ausführung (2002c: 166), wodurch sich eine spezielle Form und Qualität der Beziehung zwischen dem Ausführendem und dem Ausgeführten ergibt (Hervorhebung im Original. 2002b: 190). Der Aufbau dieser Aufmerksamkeit und Beziehung wird durch Ploegers disziplinierte und konzentrierte Wiederholung der Nachahmung des Kontraktionsmusters erreicht. Diese Nachahmung spiegelt die «körperlichen Partituren« / die aufgabenbezogene Arbeit psychophysischer performativer Praktiken wider. «Körperliche Partituren« beziehen sich hierbei auf die genaue Wiederholung einer Reihe detaillierter körperlicher Handlungen. Genau wie der nicht alltägliche Körper stehen solche Partituren dem Prinzip der geringsten Anstrengung unbewusster täglicher Bewegungsmuster gegenüber (Barba 1995: 15), sodass Ploegers Wiederholungen während der Dauer der Performance zunehmend und auf offensichtlichere Weise mühsam werden. Die Beherrschung und Ausdauer, die von dieser Aufgabe gefordert werden, hebt den Exzess und die Unbotmäßigkeit auf, die durch den vorgetäuschen Orgasmus suggeriert werden.
JERZY GROTOWSKI ERKLÄRT, WAS DER KÜNSTLER TUN KANN, UM SITUATIONEN ZU ÜBERSTEHEN, IN DENEN SOLCHE MÜHSAMEN AUFGABEN ...
... die Möglichkeiten des Körpers zu überschreiten scheinen. Es ist eine Art den Körper zum «Unmöglichen« aufzufordern und ihn entdecken zu lassen, dass das «Unmögliche« in kleine Einheiten unterteilt werden kann und damit möglich wird... der Körper wird gehorsam ohne zu wissen, dass er gehorsam sein sollte. Er wird zu einem offenen Kanal für Energien und findet eine Verknüpfung zwischen der Strenge der Elemente und dem Fluss des Lebens («Spontanität«) (1995: 129)
Indem er die muskulären Kontraktionen in kleine Einheiten aufteilt, die sich auf dem Bildschirm in den Graphen wiederfinden, geht Ploegers Körper während der Performance über mühevolle Anstrengung und strikte Genauigkeit hinaus. Sein Körper öffnet sich nach oben und außen und zeigt den »Fluss des Lebens« auf, durch den schwingenden Impuls der Schließmuskelkontraktionen, die seinen ganzen Körper durchströmen. Äußerlich suggeriert es dem Betrachter das viszerale Pulsieren während des Orgasmus eines unumgrenzten, unanständigen Körpers.
Der Schwerpunkt, den psychophysische Lehrer wie Barba, Grotowski und Zarrilli darauf legen, dass die körperliche Partitur kein Prozess automatisierter Wiederholung werden darf, ist in diesem Fluss des Lebens wiederzuerkennen, denn Ploeger belebt alle Abläufe seiner körperlichen Partitur der Schließmuskelkontraktionen mit seinem ganzen Körpergeist. Diese Belebung und der daraus resultierende Fluss des Lebens betonen die Rückkehr zur nicht alltäglichen Gegenüberstellung in der notwendigen Beziehung, die Freiheit und Hemmnis mit der körperlichen Partitur eingehen, weil der Performer innerhalb der präzisen Struktur nach Exzess und Spontanität sucht. In Beyond the Floating Islands beschreibt Barba die Performance als dicht gewebtes Netz durch die Nutzung einer Vielzahl von Partituren (in Watson 2010: 248). Er überlegt, wie Performer versuchen, das starre Eisengebilde aufzulösen und außer Kraft zu setzen, durch das sie sich selbst enthüllen (in Watson 2010: 248). Ploeger durchstößt sein eigenes «starres Eisengebilde«, um seine Faszination für normative Repräsentationen des Körpers zu enthüllen, während er diese Haltung zugleich problematisiert und untergräbt (2011).
So verlockend dieses reflexive Ausgesetztsein auch ist, liegt der berauschendste Moment von Hemmnis und möglicher Entladung stattdessen für den Betrachter an den Punkten zwischen den Wiederholungen von Ploegers Schließmuskelpartitur. In diesen Augenblicken der Stille – mit leicht gebeugten Knien, augenscheinlicher Energie in den Händen, präziser äußerer und innerer Konzentration, offenem Bewusstsein für den umgebenden Raum – bewohnt Ploeger einen Körper im Zustand erhöhter Bereitschaft. Diese Bereitschaft verweist auf Barbas Konzept des «sats«. «Sats beschreibt den Moment dynamischer Vorbereitung; in dem Augenblick, der der Handlung vorausgeht, wenn die gesamte notwendige Kraft bereit ist in den Raum entladen zu werden, so als ware sie aufgehoben und trotzdem noch immer unter Kontrolle... Der muskuläre, nervliche und geistige Einsatz ist bereits auf ein Ziel gelenkt« (Barba 1995: 55–56; Hervorhebung im Original).
In diesen von Anwesenheit erfüllten Momenten wartet der Betrachter gemeinsam mit Ploeger in einem Zustand, in dem er Bereitschaft und Erwartung sammelt. Diese Erwartungshaltung wird schließlich durch Ploegers Muskelkontraktionen gelöst, aber auch durch die klangliche Repräsentation der EMG-Daten, die den Körper des Betrachters erschüttern, in Vibration versetzen und an ihm schaben. Dieser geteilte viszerale Impuls, sozusagen ein gemeinsamer Orgasmus zwischen dem Zuschauer und Ploeger, hallt im Dialog wider, der sich zwischen Ploegers Körper und Eingeweiden entwickelt und dem veranschaulichten Mustern des Probanden, auf dessen Muskelkontraktionen er reagiert. Ein solcher Dialog dient dazu, das auszugleichen, was Jill Dolan als das Risiko zwingender Überzeugung bezeichnet, das sich dann ergibt, wenn Zuschauer durch die beeindruckende Anwesenheit eines Künstlers verführt werden (2005: 30). Diese Form manipulativer beeindruckender Präsenz, in der «Charisma« als eine «faschistische Macht« fungiert (ebd: 30), erinnert an die Fetischisierung des stählernen Körpers genau dieses Superman-Cyborgs, den Ploeger kritisiert. Das beängstigende Machtpotential, das Ploegers offensichtlicher Präsenz innewohnt, wird jedoch schlussendlich untergraben durch den freizügigen dialogischen Exzess, dem sich Ploegers Performance zuwendet.
Dani Ploegers Performance »ELECTRODE« kann am 21. November um 17 Uhr im Festspielhaus Hellerau erlebt werden.
1 – Der Begriff «psychophysisch« dient hier der Beschreibung von Praktiken, welche es Künstlern abverlangen, durch ihren Körper zu denken und auf einen Zustand hinzuarbeiten, in dem sich Körper und Geist miteinander vereinen.
2 – Barba wurde, wenig überraschend, für sein extrem problematisches vorkulturelles Konzept kritisiert. Für die Zwecke dieses Aufsatzes liegt der Fokus jedoch ausschließlich auf den fruchtbaren Ideen, die Barba über körperliche Techniken und Prinzipien formuliert hat.
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Diese Version des Textes wurde in folgendem Werk veröffentlich:
Clarke, Alissa: »Exzess, Präzision und Anwesenheit: Daniel Ploegers Electrode. Eine psychophysische Perspektive«, in: CYNETART 2012, hrsg. von Trans-Media-Akademie Hellerau e.V., Dresden 2012, S. 77-80. [ISBN: 978-3-9815597-0-5]
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BIBLIOGRAPHIE
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Barba, Eugenio (1995) The Paper Canoe, trans. by Richard Fowler, London: Routledge.
Dolan, Jill (2005) Utopia in Performance: Finding Hope at the Theater, Ann Arbor: The University of Michigan Press.
Kristeva, Julia (1982) Powers of Horror: An Essay in Abjection, trans. by Leon S. Roudiez, New York: Columbia University Press.
Ploeger, Daniël (2011) …Sounds like Superman? On the Representation of Bodies in Biosignal Performance’, Interference: A Journal of Audio Culture, 1: 1.
Watson, Ian (2010) »Training with Eugenio Barba: Acting Principles, the Pre-Expressive and ›Personal Temperatur‹«, in Hodge, Alison (ed.), Actor Training, second edition, London: Routledge, 237–249.
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