CYNETart_06humane Forum


Körper-Medien: Leibhaftigkeit in der Kunst



  • Veranstaltungsort: Kleines Haus, Staatsschauspiel Dresden
    Eintritt:kostenlos [ausgenommen neubau-Nacht: 4 €]


Programmübersicht



  • Freitag, 17.11.2006

    • 15 - 17 Uhr
      Körper-Raum-Präsenz - Performance jenseits des Theater
      Recoil Performance Group [DK], LaborGras [A/CH/D], Chris Ziegler [D], Senselabor/Depart [A]

    • 21.30 Uhr
      neubau-Nacht :: Begebare Performance Installation
      My Myo Mayhem - Performance Installation mit Senselabor/Depart [A]



  • Samstag, 18.11.2006

    • 15 - 17 Uhr
      Dem Körper eine Stimme geben: Leiblichkeit in der Schule
      Präsentation der interaktiven Installation "Körper-Stimmen-Körper" von Holgart Herrmann, Vorträge von Prof. Anja Kraus [PH Ludwigsburg] und Dr. Klaus Nicolai [TMA Hellerau]

    • 17 - 19 Uhr
      Künstlerische Versuchsanordnung im EEG-Hirnlabor
      The Sound of brain - eine interdisziplinäre Klangperformance, Hartmut Dorschner [D] in Zusammenarbeit mit dem Institut für Kommunikation und Gehirnforschung Stuttgart und einer Einführung durch den Leiter des Instituts Günter Haffelder [D]




[abstract]
Das Forum der CYNETart versteht sich als ein Ort für die Vorstellung und Diskussion von thematischen Schnittstellen für Wissenschaft und Kunst. Künstlerische Aufführungen, die der primären Intention nach als Zuschauer wirksames Stück funktionieren, besitzen bspw. auf einer reflexiven Ebene Sekundäreffekte, die anschauliche Evidenzen kulturwissenschaftlicher Thesen hervorbringen. Außerhalb gängiger Spielregeln diszipliärer Diskurse werden mit künstlerischen Strategien korrespondierende Deutungsmuster angeboten, die der bewussten Umkehr der Perspektiven einen effektiven Erkenntnisgewinn erweisen. Oszillationen der einzelnen fachspezifischen Themen erweisen sich als Katalysator eines kreativen Denkstils.

Dem Körper eine Stimme geben!
Die Integration der Künste bei der Erforschung von Leiblichkeit (körperlicher Präsenz) im schulischen Lernprozess


Die Trans-Media-Akademie Hellerau e.V. beteiligt sich seit 2005 am internationalen Kunstprojekt "Dem Körper eine Stimme geben!" im Rahmen des wissenschaftlichen Forschungsprojektes "Konstituierende Leiblichkeit als didaktisches Prinzip" unter Leitung der Juniorprofessorin Dr. Anja Kraus. Die mediale Speicherung von artikulierten individuellen Befindlichkeiten geschieht über den Einsatz von speziell präparierten und plastisch gestalteten MP3-Rekordern, so genannten "Öhrchen", in welche die Schüler per Knopfdruck während des Unterrichts leise artikulieren können. Diese von Prof. Dr. Anja Kraus an der PH Ludwigsburg entwickelten Aufnahmegeräte sind bereits im Rahmen des Forschungsprojekts an Schulen im In- und Ausland erfolgreich erprobt worden.Die Integration künstlerischer Wahrnehmungsweisen in wissenschaftliche Forschungen entspricht der unabweislichen Subjektposition sowohl gegenüber den ForschungsObjekten als auch gegenüber den forschenden Subjekten selbst. Vielleicht scheitert bisher "pädagogische Wissenschaft" (Vgl. DIE ZEIT, 8. März 2005) auch deshalb, weil sie das Subjekt generell und die Subjektivität des Lernens (Individualisierung) aus den Augen verloren hat. Darin eingeschlossen können wir nicht nur eine andauernde "theoretische" sondern eine grundsätzlichere existentielle "Auslassung" der Leiblichkeit, sowohl in den "Bildungsanstalten" als auch in den "Anstalten der Wissenschaft" feststellen.

Hypothesen



  1. Zeitgemße Untersuchungen der Entwicklungs- und Lernpsychologie, der Pädagogik, der Neurobiologie und Hirnforschung belegen einen untrennbaren Zusammenhang zwischen leiblicher Bewegung, emotionaler Bewegtheit und effizientem rationalem Lernen. Im Gegensatz dazu basieren die gesellschaftlich sanktionierten Institutionen des Lehrens und Lernens in der industrialisierten Gesellschaft auf einer Trennung dieser drei Dimensionen des lernenden Wahrnehmens. Das von Anja Kraus entwickelte und geleitete Forschungsprojekt soll an Hand intimer Artikulationen von Schülern aus 5. Klassen in verschiedenen Ländern und Kontinenten "leibhaftige Befindlichkeiten" und "Stimmungen" während des Unterrichts und in den Pausen einer sinnlich-rationalen Untersuchung zugänglich machen. Dies schließt die Erkundung unterschiedlicher Kulturen des Lernens und des kindlichen Wahrnehmens von Schule ein.

  2. Durchschnittlich ab dem 6. Lebensjahr findet schulisches Lernen auf der Basis des "Stillsitzens" statt. Damit wird sehr frühzeitig der Zusammenhang zwischen leibhaftigem Begreifen, emotionalen Impulsen und rationalem Lernen unterbrochen. Kinder gehen damit in der Regel auch auf der Basis von kindgemäßen Lerninhalten noch relativ souverän um. Mit den Spezialisierungen und Trennungen der Wissenssegmente, der wachsenden abstrakten Leistungsorientierung sowie der leiblichen Entwicklung der Kinder verstärkt sich tendenziell die Tendenz zur Abspaltung von leiblich-emotionaler Wahrnehmung und rationalisierter Aneignung von abstrakten Wissenssegmenten.

  3. Mit dem Einsetzen der Pubertät und der Herausbildung eines sich differenzierenden Sozial- und Individualverhaltens wächst abhängig von kulturellen Hintergründen und Unterrichtsformen der Konflikt zwischen inneren emotionalen Spannungen und leiblicher Passivität auf der einen und praxisferner, abstrakt-spezialisierter sowie unzusammenhängender Wissensvermittlung (Frontalunterricht) auf der anderen Seite. Zudem ist Leiblichkeit im Sportunterricht normierten Bewertungskriterien unterworfen und damit zusätzlich einer äußeren Disziplinierung und Konditionierung ausgesetzt. Die tendenzielle Unterbewertung musischer Fächer, der drastische Rückgang des Singens im Musikunterricht und die Unterordnung sprachlicher und bildkünstlerischer Artikulationsmöglichkeiten unter den schulischen Leistungs- und Zeitkanon schränkt je nach kulturellem Kontext Möglichkeiten leibhaftiger und sozialer Wahrnehmung sowie (Selbst-)Erfahrungsbildung ebenfalls deutlich ein. Das führt einerseits zu mehr oder weniger stillen Abspaltungen emotionaler Selbstwahrnehmung von den konditionierten Formen des Lernens und andererseits zu mehr oder wenig offenkundiger Langeweile, Unlust und Aggression. Die Möglichkeiten eines ganzheitlichen Lernens werden dabei wahrscheinlich mehrfach unterschritten

  4. Künstlerische Aneignung basiert weitgehend auf sinnlicher, oft kinästhetischer leibhaftiger Wahrnehmung und verbindet diese sowohl mit gesellschaftlich-sozialen Kontexten, als auch mit rationalen Erkenntnissen. Die Anwendung dieser ganzheitlichen Wahrnehmung auf die empirisch gewonnen Artikulationen von Schülern aus unterschiedlichen Ländern und Kulturen ermöglicht deren künstlerische "Erforschung". Dies ist eine neue Methode: Subjektive Artikulationen von Schülern in unterschiedlichsten künstlerischen Genres zu reflektieren und in mehr oder weniger transformierter oder objektivierter Form für Schüler, Lehrer, Wissenschaftler sowie der breiten Öffentlichkeit leibhaftig wahrnehmbar zu machen.


Körper-Stimmen-Körper - Ein interaktives Environment



  • Interdisziplinäres künstlerisches Projekt in Zusammenarbeit mit Holgart Herrmann

    • Gegenstand der künstlerischen Arbeit sind persönliche "sprachliche Artikulationen" von Schülern einer fünften Klasse, die sowohl als Intonationen nach ihrem körperlich-emotionalen Ausdruckswert (Befindlichkeit) als auch semantisch nach unterschiedlichen Bedeutungen im Kontext des Schulalltages wahrgenommen, dekodiert und in ein vituelles Environment transformiert wurden. Die Artikulationen der Schüler stehen in unterschiedlichen psychischen, sozialen, kulturellen, medialen und gesellschaftlich-sozialen Kontexten, welche sich in der Subjektivität der Stimmen quasi mit formulieren.

    • Die künstlerische Transformation der kindlichen Artikulationen besteht in einer Art "Reinkarnation" bzw. Ãœbersetzung in einen interaktiven Klang-Raum, der wiederum als ein virtueller Resonanzraum zwischen Stimmen, Stimmung und körperlicher Präsenz (Bewegung) vermittelt.

    • Die mediale Speicherung artikulierter individueller Befindlichkeiten geschah über den Einsatz von speziell präparierten und plastisch gestalteten MP3-Rekordern, so genannten "Öhrchen", in welche die Schüler per Knopfdruck während des Unterrichts und in den Pausen Botschaften leise artikulieren konnten. Diese von Prof. Dr. Anja Krauss an der PH Ludwigsburg entwickelten Aufnahmegeräte ermöglichten den beteiligten Schülern intime Artikulationen, welche durch Holgart Herrmann in die interaktive Installation "Körper-Stimmen-Körper" transformiert wurden.

    • Innerhalb der zur CYNETart_06humane vorgestellten interaktiven Installation »Körper-Stimmen-Körper» sollen sich die Artikulationen der Schüler aus einem Gymnasium in Radebeul wiederum durch aktive körperliche Bewegung berühren, überlagern und damit auf neue Weise die Einheit von Stimme, Körper und sozialer Interaktion wahrnehmbar werden lassen. Die artikulierten Befindlichkeiten der Kinder werden mit Hilfe eines Camera-Motion-Sensing-Systems "EyeCon" auf der Basis einer PD-Programmierung in sensible Klang-Umgebungen transformiert, zu denen sich die Schüler selbst leiblich präsent verhalten können. Das Projekt wahrt die persönliche Integrität der Schüler, indem nur ihnen der Zugang zum »Original-Stimm-Raum« ermöglicht wird. Eine Öffentlich begehbare Installation «Körper-Stimmen-Körper» arbeitet mit entpersonifizierten Artikulationen.

    • Die artikulierte leibliche Empfindung kann in eine wiederum leibhaftig lesbare Raum-Sprache übersetzt werden, wobei diese "Ãœbersetzung" als ein nonlineares Körper-Spiel zu verstehen ist. Die über das Kamerafenster mit dem virtuellen Raum verknüpften körperlichen Aktionen entziffern und buchstabieren mit Bewegungen und Gesten z.B. Artikulationen wie "Ich habe Bauchschmerzen!". Aussagen wie diese können virtuell in elementare morphische Bausteine transformiert werden - Geräusche, Laute, Wortfetzen, Wörter, Satzteile und Sätze - sodass im Prozess des leiblichen "Ent-Zifferns" jede Form von emotionaler Rückkopplung - Schreien, Flüstern, Stottern, Tasten, Spielen, Konstruieren usw. - zwischen dem leibhaftig gesprochenen und dem virtuell transformierten Satz erzeugt werden kann.

    • Ãœber die Sprachebene hinaus lassen sich Aussagen auf eine interaktive Bildebene transformieren. Diese könnte im weiteren Projektverlauf möglicherweise mit den Kindern gemeinsam am Computer entwickelt und im Raum praktisch umgesetzt werden. Das Entscheidende ist, dass jede Form der Gestaltung von virtuellen Environments nur in Rückkopplung mit der leiblichen Erfahrung einer rationalen Analyse und Rekonstruktion von physischen wie virtuellen Ereignissen im Raum, sowie deren sinnlicher Anmutung realisiert werden kann.




Klaus Nicolai