encounterBLOG // 24. November, Samstag

glow in der Dunkelheit

2 Tanzaufführungen mit Tänzerinnen der australischen Chunky Move Company verführten das Publikum gestern abend, man sah viele glückliche, erfreute Gesichter unter den Menschen, die den Saal des Festspielhauses verließen. die Hochzeit zwischen Choreographie und animierten Projektionen (interaktiven visuellen Graphiken) schien vollends gelungen. im folgenden will ich mich der Vereinigung und dem Thema der Interaktion noch ein wenig nähern.

bilder: (die Compagnie ist sehr streng, man darf höchstens 2 Bilder benutzen)

glow_sm2.jpg

video: keine filmische Dokumentation erlaubt!

tja, da müßt Ihr mir schon halt glauben, was ich von der Hochzeit im Dunklen zu berichten habe. ich konnte ja auch nicht alles erkennen, sondern nur erahnen, was da unter den Schatten und den Umrissen, den Doubles und den Splatters, den Strichen und den Punkten so ablief. aber auf dem Bild (dem ersten der beiden erlaubten) kann man ja schon erkennen, dass es sich um ein Liebespaar handelt – oder besser, um eine, vielleicht unerlaubte, Affäre zwischen dem Menschen und seinem (in diesem Fall von dem Software Kalypso) von intelligenten Maschinen gezeugten Datenebenbild.

hmm, nun, unerlaubt ist sicherlich der falsche Ausdruck, denn man merkt ja bald, es handelt sich um eine auto-erotische Affäre, denn die andere in dem Couple ist ja keine Frau, oder kein Mann, sondern nur Schattenriss, oder noch schlimmer, nur Abstraktion von Punkten, Linien, weißen und schwarzen Strichen, Tropfen, Verschmierungen, Verwischungen, na halt eben die ganze Palette, die dem modernen Maler so zur Verfügung steht.

(Excursus): Kalpypso

Ka·lyp·so (ka-lip’so)

[griechisch »Verbergerin«], lateinisch Calypso,

1. griechische Mythologie: Nymphe, die die Insel Ogygia bewohnt und den dort gestrandeten Odysseus sieben Jahre zurückhält. Sie gehört zu den gefährlichen Kyklopen (Blendung des Polyphem) und den Sirenen, den schönen Göttinnen (Kirke, Kalypso), die männl. Helden auf ihren Inseln festhalten wollen ..

2. Astronomie: der Saturnmond Calypso

[Buchtitel: • Kirke, Kalypso, Kittler (12/2006)
Kleines Protokoll einer Ratlosigkeit angesichts der Studie Musik und Mathematik von Friedrich A. Kittler]

na, eigentlich ist Calypso aber eine karibische Tanz/Musik und gehört zur weiteren afrikanischen Familie der Rumba, Meringue, Zarabanda, Chacona, Fandango, Habanera, usw, d.h. der Calypso gehört zu den nicht-geheimen, nicht-kultischen Tänzen. im Vergleich auch mit dem Reggae ist er eine Zusammensetzung aus Elementen von R&B, Blues, Soul, afrikanischen Rhythmen und jamaikanischer Folklore. typisch für diese Musikart ist der Off-Beat. reggae ist in der Karibik und vor allem auf Jamaika sehr verbreitet, wird aber auch auf Trinidad u.a. als Kirchenmusik verwendet. die Rastafarians wollen mit dieser Musikart ihre Ansichten ausdrücken und durchsetzen, dass die ganze schwarze Bevölkerung wieder nach Afrika zurückkehren darf, und dort in Unabhängigkeit leben kann. diese Musik ist ein Mittel des Protestes der Bewohner von Armenvierteln und der Proletarierreservate Jamaikas. die Urform des Reggae ist Ska. ska entstand in den 50er Jahren aus amerikanischem R&B und einer ursprünglichen jamaikanischen Musikform – dem Mento der mit Calypso verwandt ist. ska hat schon den typischen Reggae-Rhythmus mit der Akzentuierung der unbetonten Taktschläge, nur ist er wesentlich schneller.

so, da sind wir wieder zur Eurhythmik zurückgekehrt, nach Hellerau. jetzt können wir die australische Tanz-Compagnie und ihren deutschen Software Ingenieur besser verstehen, und unter neuem Licht betrachten, nämlich die afrokaribischen Wurzeln der Kalypso Software mit der visuellen Ästhetik der postmodernen interaktiven Performance verknüpfen, wobei die letztere doch augenmerklich von Kara Walkers beeindruckenden Scherenschnitten beeinflusst scheint (seit kurzem gibt es auch die bemerkenswerte Retrospektive im Walker Art Center und im Whitney Museum [”Kara Walker: My Complement, My Enemy, My Oppressor, My Love”].

my love? my oppressor? meine Liebe, mein Unterdrücker (ein Titel, wie er von Marguerite Duras gemacht scheint)

viel besser können wir jetzt auch die minimalistische Philosophie der interaktiven Kunst einordnen (die Linien/Streifen und schwarz-weiß Geometrien sind Daniel Buren und dem abstrakten geometrischen Expressionismus der frühen amerikanischen Minimalisten geschuldet), mit ihrer seltsam erotischen Verführungskraft des japanisch anmutendenen Animé Stils — die wilden abstrakten Kalligraphien und dunklen Schmutzstellen, Tropfen, Schwielen und Schmieren, Blutstropfen und Samenergüsse auf dem ekstatischen Boden, in den Boden gestampfte Rhythmik des Außer-sich-seins — glow flackert ja wortwörtlich im Dunklen und haucht verdorbenes Leben in die Mathematik des berechnenden Systems dieses Kamera-auges, das den Tanz der Nymphe beobachtet.

Glow_stripes.jpg

das Kamera-auge hat dabei den Blickwinkel des Ethnologen, das wird oft vergessen und viel zu wenig gewürdigt, da es eben wiederum auch auf die Anfänge des Videodance hinweist (Maya Deren), die Choreographien für die Kamera und die Szenographien des Orientalismus. die Eingeborenen führen ihre Tänze auf für die Beobachtung des anthropologischen Blicks.

die erste Tänzerin gestern Abend, Sara Black, ist weißgekleidet, mit Knieschützern, sie schlittert auf den schwarzen Boden, der ja eigentlich ein Screen ist, eine Projektionshaut, das Publikum schaut wieder herab, auf diese Haut, und Licht und Videobilder fliessen auf den Tänzerboden und die Tänzerin, deren Aktionen vorwiegend auf dem Boden stattfinden, in der Horizontale, nah an der Haut, sie wippt und fällt, überschlägt sich, Arme und Beine wirbeln über den Boden, verknoten sich, überkreuzen sich, verlieren sich in immer neue Figurationen abstrakter Bewegung, uns unbekannt oder nicht erkennbar, wir sehen ja keine Motivation oder Grund, wir fühlen nur ihre Verliebtheit, ihren Liebesdrang, ihr rhythmisches Beherrschen, ihre Überwältigung des unsichtbaren Liebhabers.

dies ist das perfekte Liebesritual, denn jede Bewegung, jede Veränderung ihres Körpers generiert eine animierte kalligraphische Geste, eine Antwort, ein Echo, ein geflüstertes Wort vom Schatten-Lover. etwa nach der Hälfte des Rituals hört man Black immer stärker, ihren Atem, ihr Schreien, ihre Ekstase, sie schlittert umher, schlägt um sich, kreiselt, stammelt Worte der Liebe in ungekannten Dialekten der von Geistern besessenen Derwische – plötzlich ist alles weiß, eine stille weiße Hitze, und jede sanfte Kreisbewegung ihres Arms und Ellenbogens malt die purpurnen Linien-Umrisse ihres Sarges unter ihr, im wahrsten Sinne des Wortes zeichnet sie ihre Umrisse, die Umarmungen des Lovers, dieses Dracula-Saugers, der mit ihr in den Sarg steigen wird, ehe die Sonne aufgeht.

jetzt ist aber noch Nacht, wir sind im Dunkeln, nur dünne weiße Striche flackern über den Untergrund, Linien wie Messer, Stiche, sie schneiden ins Fleisch, aber die Tänzerin macht immer weiter, glücklich verirrt in den pulsierenden Rhythmus der elektronischen Musik der in unseren Ohren vibriert (so viele Vibratoren in dieser Woche!), und unsere Herzen schmelzen, wir sind von den Sirenen verführt, bleiben weiter auf der Insel, wie Odysseus, hingezogen zu der Mimicry der perfekten Vereinigung.

am Ende springt die Tänzerin hoch, dann lässt sie sich wieder hinfallen, wieder und wieder, und mächtige dunkle Flecken entstehen auf dem weißen Boden. der Körper hinterlässt einen stummen schwarzen Blob einer Silhouette, und als die Tänzerin weggeht, an den Rand, und dort still verharrt, da verlässt sie ihren Liebeschatten, er bleibt zurück. nach ein paar angsterfüllten Augenblicken passiert das Unglaubliche, die verschiedenen schwarzen Blobs beginnen, sich zu bewegen, sie folgen der Tänzerin nach und erwischen sie. sie ist wiedervereint mit dem Abdruck ihres Körpers, umarmt von der digitalen Projektion. Silhouette und Person werden wieder eins, Abstand und Vereinigung sind jetzt kalkuliert und kalibriert.

(Excursus 2)

perhaps Now is the time to

do

away with

pictures of

things

which encourage

our

pleasure

centers

before

trying to

destroy

them

(Kara Walker, „American Primitives“, 2001)

die zweite Tänzerin, Kristy Ayre, ist größer gewachsen, ihre Bewegungen sind schneller. sie nimmt unser Augenmerk noch mehr gefangen, während wir versuchen, ihr in die Dunkelheit zu folgen, hinein in die heißblütige Vereinigung mit den interaktionalen, dynamischen Kalligraphien, den Silhouetten unter ihrem Körper, den Linien, die durch sie führen.

nach einer Weile, wenn Ayre anfängt, die unverständlichen Entzückungsschreie der Göttin der Camouflage auszustoßen (Kalypso heißt ja, übersetzt, die „Verbergende“), da starren wir gebannt in das Schwarze, in die weißen Striche der Zuckungen, wir können jetzt keinen Unterschied mehr wahrnehmen zwischen Fleisch, Leib und digitalem Dracula, Frau und Projektion, die Frau ist die Projektion und das technoide Animé unserer Lust, welche wir glaubten zu beobachten, wie eine Kamera, nichts als pure Fantasie, ein Fantasma unseres erotischen Wunschs – sehnen wir uns nicht alle (die wir nostalgische Avatare geworden sind) nach der Wiedervereinigung mit dem Mutterleib und mit unserem eigenen (narzistischen) Bild des geliebt Seienden, des Geliebtseins? sehnen wir uns denn nicht immer danach, dass die Silhouette uns einholt und uns ganz eng und intim umarmt, uns überwältigt?

johannes birringer



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