Rechnender Raum
Die umgestülpte Maschine
Der »Rechnende Raum« von [[Ralf Baecker]] ist eine leichte, aus Holzstäben, Schnüren und kleinen Bleigewichten gebildete Skulptur, die gleichzeitig ein voll funktionierendes, logisch exaktes neuronales Netzwerk realisiert. Durch die streng geometrische, und zugleich sehr filigrane Bauweise, ist dem Betrachter von jedem beliebigen Standpunkt aus die gesamte prozessierende Logik der Maschine zugänglich. Diese Offenlegung des Kerns wird verstärkt durch die ungewöhnliche Verteilung der Elemente. Der neuneckige architektonische Körper bildet einen Torus. Auf dieser geometrischen Basis wurde, im Gegensatz zur üblichen Anordnung einer im Inneren versteckten Logik und einem nach außen, dem Nutzer zugewandten, Display, eine gewissermaßen umgestülpte Maschine realisiert. Der Kern der Maschine, mit allen Rechenelementen, ist nach außen auf die Oberfläche verlagert und das „Display“, auf dem die Ergebnisse des Rechenprozesses angezeigt werden, befindet sich im Zentrum des Systems. Obwohl damit die Rechenprozesse und deren Logik direkt vor den Augen des Betrachters ablaufen, ist es ihm dennoch nicht möglich, auch bei noch so langer Versenkung in das Zusammenspiel der Elemente (die durch ein vielstimmiges, aber gleichmäßiges und beruhigendes Surren begleitet wird), die Abfolge der jeweiligen Zustände der Maschine zu erfassen.
Durch das Umstülpen der Maschine wird zwar einerseits ihre Arbeitsweise offen gelegt, gleichzeitig jedoch eine strikte Selbstbezogenheit und Ignoranz der Maschine gegenüber dem Betrachter realisiert. Die Maschine wendet sich vom Besucher ab und vollzieht ihre Berechnungen nur für sich selbst. Ohne auf Interaktion angewiesen zu sein oder gar dazu aufzufordern, durchläuft sie endlos ihren eigenen Zustandsraum. Das Ergebnis der Berechnungen wird nach innen, ins eigene Zentrum geleitet und ist nicht für den Betrachter bestimmt. Damit tut sich eine interessante Paradoxie auf, obwohl die Maschine alles offenlegt, verschließt sie sich gleichzeitig, so als hätte sie ein Geheimnis.
Stellen Sie es sich proportional vergrößert vor
Ȇbrigens muß man notwendig zugestehen, dass die Perzeption und wo von ihr abhängt auf mechanische Weise, d.h. mit Hilfe von Figuren und Bewegungen, unerklärbar ist. Nehmen wir einmal an, es gäbe eine Maschine, die so eingerichtet wäre, daß sie Gedanken, Empfindungen und Perzeptionen hervorbrächte, so würde man sich dieselbe gewissermaßen proportional vergrößert vorstellen können, daß man in sie hineinzutreten vermöchte, wie in eine Mühle. Dies vorausgesetzt, wird man bei ihrer inneren Besichtigung nichts weiteres finden als einzelne Stücke, die einander stoßen – und niemals etwas, woraus eine Perzeption zu erklären wäre. Also muß man die Perzeption doch wohl in der einfachen Substanz suchen, und nicht in dem Zusammengesetzten oder in der Maschinerie.«
Monadologie, G.W. Leibnitz
Grundprinzip
Der »Rechnende Raum« ist ein in sich geschlossenes System. Setzt man ihn durch das Bewegen einer seiner über 200 Hebel in Gang, wird er versuchen, die in das System eingebrachte Störung auszugleichen, aber mit jedem dieser Versuche eine neue erzeugen. Die durch die Konfiguration der Hebel und Schnüre eingeschriebene Logik zwingt den RR, seinen Zustandsraum zu durchlaufen. Die panoptische Konstruktion der Maschine bildet die mechanischen Vorgänge auf der Oberfläche durch Schnüre auf ihrem Kern (Wireframe Display) ab. Basierend auf der formalen Grundlage eines zellularen Automaten (Regel 110), sind alle diskret schaltenden digitalen Bausteine durch Schnüre, Hebel und Gewichte gebaut. Ausgangspunkt ist die Idee der Ãœbertragung von binär codierten Informationen durch Schnüre (lose Schnur = 0; gezogene Schnur = 1). Die Booleschen Operationen NOT/AND/OR sind durch entsprechend verschaltete Hebel und Gewichte realisiert. Im weitesten Sinne kann der RR als ein vereinfachter Computer beschrieben werden (für detaillierte Informationen siehe „Elementare Mechanik“).
Zellulare Automaten
Die ersten zellularen Automaten wurden von Stanislaw Ulam und John von Neumann für ihre Forschung an Kristallwachstum und Selbst-Replizierenden Systemen in den 1940er Jahren benutzt. Der Begriff »Rechnender Raum« wurde als erstes von Konrad Zuse in den 1960er Jahren verwendet. In seinem gleichnamigen Buch schlägt er vor, die physikalischen Gesetze des Universums als diskret und darüber hinaus als Ausgabe einer deterministischen Berechnung eines gigantischen zellularen Automaten zu betrachten.
Text von Prof. [[Georg Trogemann]]